Wer hätte das gedacht? Eigentlich galt die „Agenda 2010“, die sich mit der Kanzlerschaft Gerhard Schröders verbindet, rund 20 Jahre nach ihrer Präsentation und Umsetzung als Schnee von gestern. Auch weil Schröders eigene Partei, die SPD, nach dem Ende der rot-grünen Koalition im Herbst 2005 die zentralen Elemente insbesondere der Arbeitsmarkt- und Sozialsystemreform entkernt beziehungsweise faktisch außer Kraft gesetzt hat.
Wenn jetzt der Bundesvorstand der CDU mit einer „Agenda 2030: Neuer Wohlstand für Deutschland“ in den Wahlkampf ziehen will, ist das kein terminologischer Betriebsunfall. Denn führende Vertreter der CDU, unter ihnen auch ihr Kanzlerkandidat, stellen ausdrücklich eine Verbindung zur „Agenda 2010“ her. Mithin ist das Reformprogramm Gerhard Schröders ein Maßstab, an dem sich die CDU und ihr Vorsitzender messen lassen wollen.
Und auch die Rahmenbedingungen ähneln sich. Das Motto „Agenda 2010“, unter dem das Programm Furore machte, war eine Wortschöpfung von Schröders damaliger Ehefrau Doris Schröder-Köpf. Die Regierungserklärung selbst trug die Überschrift „Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung“ und bezog sich damit auch auf den bevorstehenden Angriff der Amerikaner auf den Irak, also den Dritten Golfkrieg. Die „Agenda 2030“ wurde unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine formuliert.
Am 14. März 2003 stellte Gerhard Schröder seine Regierungserklärung - das Redemanuskript umfasste stattliche 83 Seiten - im Bundestag vor. Es war ein Paukenschlag. Weder die eigene Fraktion noch gar die eigene Partei wussten im Einzelnen, was der Kanzler vorschlagen, anbieten und vor allem fordern würde. Und so setzte sich schon vor der offiziellen Präsentation der falsche Eindruck fest, dass es in erster Linie um ein sozialpolitisches Programm gehe. Man kann das im Einzelnen in
meiner Biographie Gerhard Schröders nachlesen.
Tatsächlich war „dieses riesige Reformwerk“ aber vor allem ein wirtschafts- und finanzpolitisches Programm, „um uns Luft zu verschaffen für Investitionen in Bildung, Forschung. Innovation und damit in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes“, wie Schröder im Herbst 2003, als seine Reformen längst unter schwerem Beschuss nicht zuletzt aus den eigenen Reihen standen, an Hans-Jürgen Wischnewski schrieb. Wischnewski war ein Urgestein der SPD und ein verlässlicher Mitarbeiter der sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt.
Das Zitat könnte auch aus dem aktuellen Wahlprogramm der CDU stammen. Genauso wie Schröders Maxime des Frühjahrs 2003, dass es künftig niemandem „gestattet“ sein werde, „sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt – wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern -, der wird mit Sanktionen rechnen müssen.“ Ihren Niederschlag fand dieses Prinzip unter anderem im sogenannten Arbeitslosengeld II, das unter der abwegigen Bezeichnung "Hartz IV" in die Geschichtsbücher eingegangen ist.
Vor allem daran machte sich der Widerstand vieler parteiinterner Widersacher fest. 20 Jahre nach Verlesung der Agenda im Bundestag setzte sich diese schließlich durch: Das Anfang 2023 von der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung auf den Weg gebrachte „Bürgergeld“ stellte aus Sicht seiner Kritiker, unter ihnen die Unionsparteien, die endgültige Absage an das Prinzip „Fördern und Fordern“ dar. So gesehen ist es konsequent, dass die „Agenda 2030“ der CDU jetzt ausdrücklich „die Abschaffung des sog. Bürgergeldes und die Einführung einer Neuen Grundsicherung“ vorsieht.
Schon 2003 fiel auf, dass sich die damaligen Oppositionsparteien CDU und CSU mit ihrer Kritik an Schröders Agenda zurückhielten. Das war insofern kein Zufall, als das Programm auch nachholen wollte und musste, was in der zuletzt bleiernen Ära Helmut Kohl an Reformen liegen geblieben war. Liest man die „Agenda 2030“ in diesem Licht, so räumt sie auch mit den innenpolitischen Hinterlassenschaften der Ära Angela Merkels auf.
Allerdings macht es einen bedeutenden Unterschied, ob ein einschneidendes Reformprogramm in Form einer verbindlichen Regierungserklärung vorgestellt oder als eines von vielen Wahlprogrammen in die Welt gesetzt wird. Gerhard Schröder verband die Agenda ausdrücklich mit seiner Zukunft als Kanzler. Friedrich März muss seine im Zweifelsfall erst einmal durch Koalitionsverhandlungen bringen. Mit der SPD dürfte das kaum zu machen sein.