Gregor Schöllgen – Historiker

​Missvertrauen

03.12.2024 
Regierungen können scheitern. Am eigenen Unvermögen, an äußeren Umständen, am Misstrauen der Wähler, am Widerstand in den Reihen der sie tragenden Parteien. Weil das so ist, sieht das Grundgesetz die Möglichkeit einer Abwahl des Bundeskanzlers und damit seiner Regierung durch das Parlament vor. Allerdings nur dann, wenn sich alle anderen Wege als nicht begehbar erweisen.
 
In Fall eines drohenden Verlusts der parlamentarischen Mehrheit hat der Bundeskanzler zwei Möglichkeiten. Zum einen kann er die Abgeordneten des Bundestages auffordern, ihm ihr Vertrauen auszusprechen und damit die Abgeordneten der ihn tragenden Koalition auf seine Linie zwingen. Oder aber der Kanzler stellt die Frage in der Absicht, dass ihm das Vertrauen auch durch seine eigenen Leute verwehrt wird. Das kling paradox, ist aber konsequent, wenn der Regierungschef vor dem regulären Ende der Legislaturperiode Neuwahlen herbeiführen und den Bundespräsidenten von der Notwendigkeit eines Auflösung des Bundestages überzeugen will.
 
Beide Varianten der Vertrauensfrage – die „echte“ und die „unechte“ - hat es seit 1949 immer wieder einmal gegeben. Wie sich das im Rahmen der deutschen Geschichte darstellt, kann man in dem Buch Kanzler, Krisen, Koalitionen. Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel nachlesen, das Arnulf Baring und ich 2006 in zweiter Auflage vorgelegt haben. Die erste erschien anlässlich der Bundestagswahl 2002 als Begleitung einer vierteiligen Fernsehdokumentation, die für RTL produziert, von Peter Kloeppel moderiert und von uns beraten wurde.
 
Dort haben wir auch über die andere Möglichkeit des Regierungswechsels während einer laufenden Legislaturperiode berichtet: das konstruktive Misstrauensvotum. In diesem Fall kommt der Antrag, dem Kanzler das Misstrauen auszusprechen, aus den Reihen der Opposition und ist zwingend an die Wahl eines Nachfolgers gekoppelt – eine Lehre aus den chaotischen Zuständen der Weimarer Republik.
 
Ein konstruktives Misstrauensvotum ist bis heute nur zweimal versucht worden. Im April 1972 scheiterte Rainer Barzel, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, mit dem Versuch Kanzler Willy Brandt zu stürzen; im Oktober 1982 gelang Helmut Kohl, einem Nachfolger Barzels im Fraktionsvorsitz, der Sturz von Brandts Nachfolger Helmut Schmidt.
 
Der Coup gelang, weil die FDP, traditionell die Mehrheitsbeschafferin im Bundestag, sich von der SPD abwandte und mit CDU und CSU eine Koalition einging. Schaut man sich die aktuelle Lage an, so ist sie auf den ersten Blick nicht mit der von vor mehr als 40 Jahren zu vergleichen. Damals gab es drei Fraktionen, heute sind es sieben, außerdem einige fraktionslose Abgeordnete.
 
Andererseits wurde heute wie damals das Papier eines führenden Freidemokraten – seinerzeit des Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff, jetzt des Finanzministers und Parteivorsitzenden Christian Lindner – für die sozialdemokratischen Kanzler zum Scheidungsantrag. Damals kamen die FDP-Minister durch ihren Rücktritt dem Rauswurf durch Kanzler Schmidt zuvor; jetzt wurde Lindner durch Scholz der Stuhl vor die Tür gesetzt.
 
In beiden Fällen war das auch ein Signal an jene Mitglieder und Parlamentarier der SPD, die den Regierungskurs ihrer Partei mehr oder weniger offen ablehnten. Wie vor 42 Jahren sind auch heute sowohl sozial- und wirtschaftspolitische Themen als auch die politischen und militärischen Herausforderungen insbesondere durch die Sowjetunion beziehungsweise Russland ein Anlass für die Unruhe in der SPD. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr.
 
Die Ursachen lagen und liegen tiefer. Sie sind so alt wie die Partei. In den Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts als dezidiert linke Bewegung formiert, fiel der 1875 abgeschlossene Gründungsprozess der SPD mit der Gründung der Deutschen Reiches zu Beginn des Jahres 1871 zusammen. Und weil Otto von Bismarck, der erste Kanzler dieses Reiches, die deutsche Sozialdemokratie entschlossen und mit allen möglichen Mitteln bekämpfte, wurde die Opposition schon früh zur DNA der SPD. Grundsätzlich hat sich daran bis heute wenig geändert.
 
So gesehen überrascht es nicht, dass die Bundesrepublik Deutschland in den 75 Jahren ihres Bestehens gerade einmal 23 Jahre lang von sozialdemokratischen Kanzlern regiert worden ist. Nicht viel, wenn man bedenkt, dass es die Christdemokraten Konrad Adenauer auf 14, Helmut Kohl und Angela Merkel sogar auf jeweils 16 Jahre brachten. Hingegen kamen die Sozialdemokraten Helmut Schmidt auf 8, Gerhard Schröder auf 7, Willy Brandt auf 5 und Olaf Scholz auf 3 Jahre, bis er sich entschloss, die Vertrauensfrage zu stellen.
 
Keiner von ihnen schaffte es über zwei volle Legislaturperioden. In diesen insgesamt 23 Jahren ist durch einen Kanzler der SPD fünf Mal die Vertrauensfrage gestellt beziehungsweise angekündigt und zwei Mal ein konstruktives Misstrauensvotum gegen einen sozialdemokratischen Kanzler eingebracht worden. Das ist beispiellos.
 
Ein konstruktives Misstrauensvotum gegen einen christdemokratischen Kanzler hat es seit 1949 nicht gegeben. Die Vertrauensfrage wurde durch einen Kanzler der CDU bis heute nur einmal gestellt. Mitte Dezember 1982 tat Kohl diesen Schritt, weil er nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt und der Übernahme des Kanzleramtes eine Legitimation durch die Wähler wollte.
 
Gewiss, die Umstände, Anlässe und Gründe der insgesamt sieben Vertrauensfragen und Misstrauensvoten während der vier sozialdemokratischen Kanzlerschaften waren unterschiedlich und zeitgebunden. Eines aber haben sie gemeinsam, nämlich die verdeckte oder auch offene Opposition aus den eigenen Reihen, in der wiederum eine gehörige Portion von Misstrauen der Basis gegenüber den Amts- und Funktionsträgern der eigenen Partei mitschwingt.
 
Die komplexe Geschichte dieses Phänomens ist noch nicht aufgeschrieben worden. In meiner Biographie Gerhard Schröders kann man einiges dazu lesen. Denn Schröder war in seinem aktiven politischen Leben beides: als führender Jungsozialist und junger Bundestagsabgeordneter pointierter Kritiker des eigenen Spitzenpersonals; als Bundeskanzler auch ein politisches Opfer seiner Nachfolger in jenen Funktionen.
 
Man darf gespannt sein, wie sich die Lage nach der Vertrauensfrage Mitte Januar 2024 und den vorgezogenen Bundestagswahlen Ende Februar 2025 darstellen wird. Als Gerhard Schröder 2005 als bislang letzter Bundeskanzler diesen Schritt tat, holte er gegen alle Widerstände, auch aus den eigenen Reihen, gut 34 Prozent der Stimmen. Will Olaf Scholz auch nur in die Nähe dieses Ergebnisses kommen, muss er nicht zuletzt das Misstrauen in Teilen seiner eigenen Partei überwinden. Daran sind schon andere gescheitert.