Gregor Schöllgen – Historiker

Webers Wege

13.10.2024 
Was macht einen Politiker, einen Manager, einen Kulturschaffenden oder auch einen Wissenschaftler zu einem bedeutenden Menschen? Hängt von den Kriterien ab, die man zugrunde legt. Im Falle eines Geistes- beziehungsweise Kulturwissenschaftlers, um den es hier geht, können sich die Allermeisten auf die schriftliche Hinterlassenschaft und den Umgang mit diesem Erbe durch die Nachlebenden verständigen.
 
So gesehen muss Max Weber ein außerordentlich bedeutender Mensch gewesen sein. Nicht nur sind Zitate aus seinen Schriften und Reden fester Bestandteil politischer Sonntagsreden jeder Couleur, sondern seine gesammelten Werke füllen auch fast drei laufende Regalmeter.
 
Das erstaunt, denn das Werk, das der 1864 geborene Jurist, Nationalökonom und Soziologe 1920 bei seinem frühen Tod hinterließ, war ein Torso, schon weil Weber aufgrund einer psychischen Erkrankung jahrelang kaum arbeitsfähig war. Dennoch – oder vielleicht eben deshalb – nahm der deutsche Wissenschaftsbetrieb Jahrzehnte später ein Editionsvorhaben in Angriff, das seinesgleichen sucht.
 
40 Jahre ist es jetzt her, dass 1984 ein erster Band der „Max Weber Gesamtausgabe“ (MWG) erschien. Die Edition wurde im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, also im Wesentlichen mit öffentlichen Mitteln erstellt, und erschien im Tübinger Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), der seit 2000 als „Mohr Siebeck“ firmiert. Das lag nahe, weil der traditionsreiche Verlag nach Webers Tod die Herausgabe seiner Schriften übernommen hatte.
 
Wie der Zufall es wollte, erschien dort 1984 auch mein Buch Handlungsfreiheit und Methodenzwang. Max Weber und die Tradition praktischer Philosophie, das auf meine Jahre zuvor entstandene philosophische Dissertation zurückgeht. Lebhaft erinnere ich mich an Georg Siebecks Besuch in Münster, wo ich mich gerade für Neuere Geschichte habilitiert hatte. Schwer vorstellbar, dass heute ein Verleger zu einem noch kaum bekannten Autor reist, um über ein Buchprojekt zu sprechen - und ihm bei dieser Gelegenheit auch gleich eine Neuerscheinung seines Hauses zum Autorenpreis zu verkaufen.
 
Gute Verleger sollten eben auch versierte Kaufleute sein. Ob das auch umgekehrt gilt, sei dahingestellt. Jedenfalls erklärte Dirk Möhrle, als er im Herbst 2024 den renommierten Suhrkamp Verlag übernahm, mit entwaffnender Offenheit: „Ich bin Unternehmer, ich bin Kaufmann … Das originäre Verlagsgeschäft verstehe ich nicht.“
 
Im Sommer 2020, also 36 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes der Max Weber Gesamtausgabe, konnte die Arbeit an diesem Mammutprojekt abgeschlossen werden. Am Ende wurden es 54 Bände beziehungsweise Teilbände mit insgesamt gut 35.000 Seiten. Zum Abdruck kam das gesamte Werk Max Webers mit 509 Texten (Abteilung I), 3.532 Briefen (Abteilung II) und einer Reihe von Vorlesungen und Vorlesungsmitschriften (Abteilung III). Das Zentrum der Edition liegt in der mit Abstand umfangreichsten Abteilung I „Schriften und Reden“ mit ihren 35 (Teil-)Bänden.
 
Wer auch nur ansatzweise mit dem Werk Max Webers vertraut ist, muss das für einen Lesefehler halten. 35 Bände Schriften und Reden? Wie kann das sein, hatte der Mann zu Lebzeiten doch gerade einmal zwei richtige Bücher veröffentlicht, nämlich seine Dissertation und seine Habilitationsschrift. Alles andere waren Enquete-Berichte, Aufsätze, Vorträge, Rezensionen etc. Der große Rest bestand aus Buchmanuskripten in unterschiedlichen Stadien - von der Niederschrift bis zur Drucklegung.
 
Dass diese Arbeiten, darunter Max Webers monumentales Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“, wenige Jahre nach seinem frühen Tod im Druck erschienen, war nicht zuletzt das Verdienst Marianne Webers. Die später von vielen zu Unrecht gescholtenen Witwe Max Webers hatte 1900 – für eine Frau in dieser Zeit ganz und gar ungewöhnlich – im Fach Philosophie promoviert und profilierte sich in den kommenden Jahrzehnten mit zahlreichen Publikationen als eine der führenden Frauenrechtlerinnen ihrer Generation.
 
Nach dem Tod ihres Mannes machte Marianne Weber es sich zur Lebensaufgabe, sein fragmentarisches, zumeist nur an entlegenem Ort oder auch gar nicht verfügbares Werk in vollem Umfang zugänglich zu machen und damit auch für künftige Generationen zu sichern.
 
In diesem Sinne nahm sie zum einen die Niederschrift seiner Biographie in Angriff. Das Buch im Umfang von stattlichen 700 Seiten erschien 1926 unter dem Titel „Max Weber. Ein Lebensbild“ im Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck). Zum anderen und vor allem hatte Marianne Weber den entscheidenden Anteil daran, dass Max Webers noch nicht vollendeten Schriften erstmals und die bereits publizierten Schriften erneut veröffentlicht wurden.
 
Das heißt aber auch: Schon wenige Jahre nach Max Webers Tod war mehr oder weniger sein gesamtes Werk für jedermann im Druck verfügbar. So gesehen bewegt sich die MWG in vertrauten Bahnen. Wirklich neu, zudem eine Quelle ersten Ranges sind lediglich die Briefe, mit weitem Abstand gefolgt von Notizen für Vorlesungen und von Vorlesungsmitschriften, die von Hörern stammen.
 
Das wirft Fragen auf: Hätte man es unter diesen Voraussetzungen nicht bei einer Erstausgabe der Briefe und einer fehlerbereinigten Neuauflage der „Schriften und Reden“ Webers belassen können? Ließ sich angesichts dieser Sachlage eine Edition mit einem derart gigantischen institutionellen, finanziellen und nicht zuletzt personellen Aufwand überhaupt rechtfertigen? Immerhin war an dem Projekt neben den fünf Erstherausgebern eine halbe Hundertschaft ausgewiesener Bandherausgeber und hochqualifizierter Wissenschaftlicher Mitarbeiter beteiligt.
 
Tatsächlich liegt in deren Arbeit auch der eigentliche Gewinn der MWG. Zwar machen die Einleitungen, editorischen Berichte, wissenschaftlichen Apparate, Register und Verzeichnisse, in denen die Herausgeber und Bearbeiter Webers Wegen buchstäblich Meter für Meter folgen, mitunter 50 Prozent und mehr der Bandumfänge aus. Aber sie sind zugleich auch eine bedeutende Quelle für die Erforschung der politischen und wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder auch kulturellen Entwicklung Deutschlands in der Wilhelminischen Ära und der Frühphase der Weimarer Republik.
 
Doch den Aufwand rechtfertigt selbst diese Bilanz nicht. Zumal die Edition für die allermeisten Interessierten kaum erschwinglich ist. Für den ersten erschienen Band waren 1984 stolze 400 D-Mark hinzublättern. Heute muss man für die komplette Ausgabe fast 12.000 Euro auf den Tisch legen.
 
An der Entstehung und Realisierung der MWG war ich nicht beteiligt. Wohl aber habe ich, mit dem ersten beginnend, mehr oder weniger alle Bände der MWG rezensiert, die meisten in der Historischen Zeitschrift, aber auch einige in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Süddeutschen Zeitung und an anderen Orten.
 
Und dann konnte ich zur MWG zwei bis dahin unbekannte Dokumente beisteuern. Sie gehören zu den wenigen bis dahin nicht veröffentlichten Texten der Abteilung I. Der Fund war einem doppelten Zufall zu danken. Als ich - Anfang der Achtzigerjahre und im Rahmen der Arbeit an meiner Habilitationsschrift – in den Yale University Libraries die Papiere des Publizisten Ernst Jäckh und des Diplomaten Alfred von Kiderlen-Wächter einsah, stieß ich auf den Nachlass des Historikers Hajo Holborn.
 
Einmal vor Ort, nahm ich mir die Dokumente vor und fand darin auch Abschriften zweier Vorschläge zur Reform der Verfassung des Deutschen Reiches, die Max Weber Anfang Mai 1917 an Conrad Haußmann, einen führenden Linksliberalen der Zeit, geschickt hatte und die als verschollen galten. Einer Notiz Holborns ist zu entnehmen, dass ihm die Dokumente durch Marianne Weber „zur Verfügung gestellt“ worden waren.
 
Zurück in Deutschland, berichtete ich Wolfgang J. Mommsen von meinem Fund. Mommsen hatte mit seiner 1959 erschienen Dissertation „Max Weber und die deutsche Politik“ maßgeblich dafür gesorgt, dass der inzwischen ein wenig in Vergessenheit Geratene wieder ins Zentrum nicht nur des wissenschaftlichen Interesses rückte. Ich kannte und schätzte Mommsen, hatte auch Mitte der Siebzigerjahre des Öfteren sein Oberseminar an der Düsseldorfer Universität besucht. Das war die Zeit, als die Planungen der MWG konkrete Formen annahmen, und man geht wohl nicht zu weit, wenn man in Wolfgang J. Mommsen die treibende Kraft dieses Projektes sieht.
 
Ich selbst stellte die beiden Dokument am 12. Februar 1983 in einem FAZ-Artikel unter dem Titel „Parlamentarische Regierung’ und ‚geordnete Außenpolitik’“ der Öffentlichkeit vor. Mommsen nahm sie in Band I/15 der MWG auf, der 1984 unter dem Titel „Max Weber. Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918“ als erster Band dieses monströsen Projekts vorgelegt wurde.
 
Blickt man heute, mehr als hundert Jahre nach Webers Tod, auf sein Lebenswerk zurück, ist man ratlos. Auf der einen Seite stehen ein monumentales, außergewöhnlich vielseitiges, aber eben nicht abgeschlossenes wissenschaftliches Werk und eine Sammlung dezidierter, vehement vorgetragener, allerdings zeitbezogener politischer Analysen und Vorschläge. Um nur die beiden massivsten Säulen zu nennen.
 
Mir ist kein zweiter herausragender Vertreter der deutschen Kulturwissenschaften jener Jahrzehnte bekannt, der ein vergleichbares Profil vorzuweisen hätte. Aber diese Stärke barg ein großes Risiko: die Gefahr des Scheiterns. Mich hat dieser Aspekt seiner Biographie von Anfang an fasziniert, und in einer 1998 erschienenen Biographie Max Webers bin ich diesem Weg Webers gefolgt.
 
Mein Fazit: Der nie explizit erhobene, tatsächlich aber verfolgte Anspruch Max Webers, die großen Strömungen einer außergewöhnlich bewegten Zeit noch einmal zusammenzubringen und zusammenzudenken, war ein Titanisches Bemühen ins Leere, also zum Scheitern verurteilt. Auch das dokumentieren die 54 Bänder der MWG.