Am 23. August 1939 schloss Josef Stalin - Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken - mit Adolf Hitler - Vorsitzender der NSDAP, Kanzler des Deutschen Reiches und Oberbefehlshaber der Wehrmacht - einen Pakt. 85 Jahre ist das jetzt her.
Als die Nachricht in den folgenden Tagen die Runde machte, rieb sich alle Welt überrascht die Augen. Denn so gut wie niemand hatte mit einer Vereinbarung zwischen den beiden Diktatoren gerechnet. Immerhin war die Vernichtung der Sowjetunion ein, wenn nicht das eigentliche Ziel von Hitlers rassenideolgischem Programm.
Eben deshalb ließ sich Stalin auf diesen Pakt ein. So paradox das auch klingen mag. Aber aus seiner Sicht gab es dafür zwingende Gründe. Zum einen gehörte er zu den wenigen Zeitgenossen, die Hitlers Pläne schon früh ernst nahmen. Zum anderen befand sich die Sowjetunion nicht nur in einer Situation eklatanter innerer Schwäche, sondern sie war - auch deshalb - außen- und sicherheitspolitisch paralysiert. Dass Großbritannien und Frankreich Hitlers Vorbereitungen auf einen Feldzug gegen das bolschewistische Russland offenkundig tolerierten, um das Mindeste zu sagen, machte die Lage noch komplizierter.
Dabei waren es Franzosen und Briten gewesen, die den Sowjets Mitte April 1939 in Reaktion auf den Anschluss Österreichs und der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich Verhandlungen über ein Bündnis vorgeschlagen hatten. Die führten auch zunächst zum Erfolg. Am 24. Juli 1939 vereinbarten London, Paris und Moskau eine Beistandsverpflichtung. Allerdings konnte sie erst in Kraft treten, wenn eine ergänzende Militärkonvention geschlossen war, und zu der ist es nie gekommen. Dass sich die britische Delegation Zeit ließ, dass sie zunächst auf dem Seeweg an- und dann mit der Bahn nach Moskau weiterreiste, so dass die Verhandlungen über die Militärkonvention erst am 12. August beginnen konnten, war schon deshalb schwer nachvollziehbar, weil der britische Premierminister seinerzeit nicht schnell und oft genug hatte reisen können, als er zu Hitler wollte.
Als klar wurde, dass Stalin das Taktieren der Westmächte satt hatte und nach einer Alternative Ausschau hielt, stieg der deutsche Außenminister Joachim von Ribbentrop ins Flugzeug und reiste nach Moskau. Dort setzte er - noch in der Nacht und im Beisein Stalins - seine Unterschrift unter zwei Abkommen, über die man sich zuvor schon in groben Zügen verständigt hatte und die von Ribbentrop und seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw M. Molotow binnen weniger Stunden endredigiert worden waren. Man kann das in meinem Buch
Deutsche Außenpolitik. Von 1815 bis 1945 nachlesen.
Der eigentliche Vertrag, ein Neutralitäts- und Nichtangriffspakt, öffnete dem Angriff der beiden auf einen Dritten Tür und Tor. Um wen es dabei konkret ging, hielt ein geheimer Zusatz zu jenem Vertrag fest. Danach fielen Finnland, Estland, Lettland, Bessarabien, also den östlichen Teil Rumäniens, sowie Polen östlich einer Linie, die grob durch die Flüsse Narew, Weichsel und San markiert wurde, in die sowjetische, Polen westlich dieser Linie sowie Litauen in die deutsche Interessensphäre.
Nachdem Deutschland am 1. September 1939 Polen überfallen hatte und die Sowjets am 17. September in Ostpolen einmarschiert waren, ließen Hitler und Stalin am 28. September diese Vereinbarung modifizieren. Fortan fiel Litauen an die UdSSR, Zentralpolen hingegen ging an Deutschland. Auf Basis dieser Vereinbarung zog sich die Rote Armee von der Weichsel an den Bug zurück; Warschau lag fortan ganz im deutschen Einflussbereich. Bis die Rote Armee im Januar 1945 die Stadt einnahm, war Warschau Schauplatz zahlloser deutscher Verbrechen nicht zuletzt an der Zivilbevölkerung.
Dass Hitler und Stalin in ihren Absprachen vom Sommer 1939 keine Dauerlösung sahen, lag auf der Hand. Für beide war der Pakt mit dem, den sie früher oder später angreifen würden, ein Zwischenschritt. Von kaum zu überschätzender Bedeutung war das für Stalin. Denn zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses befand sich die Sowjetunion in einem nicht erklärten, aber auf beiden Seiten mit hohem Einsatz geführten Krieg gegen Japan. Darauf konnte sich Stalin nunmehr ganz konzentrieren. Und das war nicht der einzige Vorteil, den ihm die taktische Annäherung an Hitler bot.
Vor allem verschaffte sie ihm Luft, um die Sowjetunion auf den erwarteten Angriff Deutschlands vorzubereiten. Denn die Lage des Landes war desaströs. Zwischen 1926 und 1939 dürfte seine Bevölkerung um beinahe 19 Millionen Menschen zurückgegangen sein. Die große Hungersnot, die der Missernte von 1931 folgte, hatte auch deshalb verheerende Folgen, weil das vor allem in der Ukraine, der sowjetischen Kornkammer, geerntete Getreide fast ausnahmslos ins westliche Ausland ging, das dafür Maschinen und andere für die Modernisierung der Roten Armee wichtige Ausrüstung lieferte. Der exorbitante Verlust an Menschenleben, den diese Geschäfte forderten, ist in der Ukraine bis heute nicht vergessen.
Zudem forderte Stalins Feldzug gegen tatsächliche und vor allem gegen vermeintliche Gegner im eigenen Imperium ein Heer von Opfern: Geschätzte eine Million von ihnen wurden in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre erschossen, weitere drei Millionen wurden deportiert, verbannt oder in eines der berüchtigten Gulags gesteckt. Gleichermaßen radikal wie folgenreich waren die Säuberungen in den Reihen der Roten Armee. Zwischen 1929 und 1939 erlebte sie davon drei Wellen, von denen die letzte, im Frühjahr 1937 einsetzende die radikalste war. Auch deshalb brauchte Stalin Zeit. Am Ende blieben ihm nicht einmal zwei Jahre.
Im Morgengrauen des 22. Juni 1941 war es mit dem Burgfrieden zwischen Hitler und Stalin vorbei. Die Zahlen der Opfer und das Ausmaß der Zerstörungen, die der deutsche Feldzug gegen die Sowjetunion forderte, stellte alles in den Schatten was man kannte. Es dauerte fast vier Jahre, bis Deutschland im Mai 1945 militärisch vernichtet, aus sämtlichen eroberten Gebieten vertrieben und seinerseits durch die alliierten Siegermächte, unter ihnen die Sowjetunion, vollständig besetzt war.
Die Sowjets ihrerseits blieben im Wesentlichen, wo ihre Truppe bei der bedingungslosen deutschen Kapitulation standen. Dazu zählten auch einige jener Gebiete, die schon Hitler seinem damaligen Partner Stalin überlasse hatte. Viele – wie die baltischen Staaten oder ein Teil Polens - wurden in den sowjetischen Staatsverband gezwungen beziehungsweise zurückgezwungen; andere – wie die meisten Staaten Südosteuropas – behielten zwar formal ihre staatliche Souveränität, waren aber faktisch Satelliten Moskaus.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Imperiums, der Ende 1991 mit der Einholung der Roten Flagge über dem Kreml seinen Abschluss erreichte, beendete zwar dieses Kapitel europäische Geschichte, schuf aber zugleich eine Fülle neuer hochbrisanter Probleme, die auch unsere Gegenwart mit bestimmen. Wer sie verstehen will, muss die Vorgeschichte kennen, die begann, als Stalin im Sommer 1939 mit Hitler einen Pakt schloss.