Gerät die Lage außer Kontrolle? Die Entscheidung der meisten westlichen Staaten, zuletzt auch der USA und Deutschlands, der Ukraine nicht nur weitreichende Waffensysteme zur Verfügung zu stellen, sondern ihr auch den eingeschränkten Einsatz gegen russische Stellungen auf russischem Territorium zu gestatten, ist völkerrechtlich legitim und militärisch nachvollziehbar.
Offenbar wurden die Waffen unmittelbar nach der Freigabe erfolgreich gegen die effizienten russischen Luftabwehrsysteme S-300 und S-400 eingesetzt und führten zu einer spürbaren Entlastung des russischen Drucks auf Charkiv.
Allerdings birgt die Entscheidung, der Ukraine weitreichende landgestützte Systeme – im deutschen Falle die Panzerhaubitze 2000 und der Mehrfachraketenwerfer MARS II – zu liefern, auch Risiken. Denn es ist nicht auszuschließen, dass mit diesen westlichen Waffen unter anderem auch Radaranlagen ins Visier genommen werden, die Russland für die Frühwarnung vor einem nuklearen Angriff aus dem Westen nutzt. Das klingt bizarr, denn nicht die amerikanische, britische oder französische Regierung hat in jüngster Zeit indirekt oder gar direkt mit einem möglichen Einsatz von Atomwaffen gedroht, sondern der russische Präsident.
Dahinter steckt eine ungewöhnlich komplexe und inzwischen auch politisch verfahrene Lage. Zwar galt der Einsatz der „Bombe“ gegen zivile Ziele seit den amerikanischen Atomwaffenabwürfen auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 allgemein als ausgeschlossen. Doch änderte das nichts an dem Bestreben einer wachsende Zahl von Staaten, ihrerseits in deren Besitz zu gelangen: Wer über sie verfügt, so die auf den ersten Blick absurde Logik, ist seinerseits weitgehend vor einem Nuklearschlag geschützt – jedenfalls solange er über die Fähigkeit verfügt, auf einen nuklearen Erstschlag mit einem nuklearen Zweitschlag zu antworten, und der Erstschläger das auch weiß.
Das gilt vor allem für die monströsen landgestützten strategischen Atomwaffen mit einer Reichweite von mindestens 5.500 Kilometern. Warum das so ist und welche Rolle die darunter angesiedelten Waffen mit kürzeren und mittleren Reichweiten spielen, ist eine komplizierte Geschichte, die man im 5. Kapitel meines Buches
Krieg nachlesen kann.
Als Ende August 1949, also vier Jahre nach den amerikanischen Atomwaffenabwürfen über Japan, bekannt wurde, dass auch die Sowjets erfolgreich eine Atomwaffe getestet hatten, dämmerte es allen Beteiligten, dass sich hier ein gefährlicher militärischer Wettlauf anbahnte, den am Ende keine Seite würde gewinnen und überleben können.
Die Erkenntnis verdichtete sich im Laufe der Jahre zu einer Logik, die als „Mutual Assured Destruction“ (MAD) in die Geschichte eingegangen ist. Dieses Prinzip der gegenseitig garantierten Vernichtung sollte sicherstellen, dass angesichts rasant wachsender Arsenale und immer neuer Techniken keine Seite in Versuchung geriet, doch den nuklearen Erstschlag zu wagen. Darauf verständigten sich Washington und Moskau, als sie im Mai 1972 zeitgleich mit einem ersten Vertrag über eine Begrenzung der landgestützten strategischen Atomwaffen (SALT) eine Vereinbarung über die Abwehr dieser Raketen (ABM) unterzeichneten. Der ABM-Vertrag garantierte, dass die nukleare Zweitschlagsfähigkeit nicht beeinträchtigt und damit Spekulationen über einen Erstschlag schon im Keim erstickt wurden.
Die Verträge trugen maßgeblich dazu bei, dass die Beziehung zwischen den beiden Weltmächten berechenbar blieb. Dass es Amerikanern und Sowjets wirklich ernst war, zeigte sich im Dezember 1987: In den Dämmerstunden des Kalten Krieges, von denen wir allerdings erst heute wissen, dass es die Dämmerstunden waren, verständigten sie sich sogar vertraglich darauf, ihre „Intermediate-Range Nuclear Forces“ (INF), also die unterhalb der strategischen Waffen angesiedelten, landgestützten nuklear ausgestatteten Marschflugkörper und Mittelstreckenraketen, zu vernichten. Dieser INF-Vertrag war der erste in der Geschichte, der eine vollständige Vernichtung einer Waffengattung festschrieb.
Mit dem Ende der Sowjetunion standen diese Verträge und mit ihnen die Berechenbarkeit zur Disposition. Um zu retten, was sich retten ließ, nahmen die USA und die Sowjetunion beziehungsweise Russland die Gespräche über ihre strategischen Arsenale zwar wieder auf und vereinbarten im Juli 1991 und im Januar 1993 einen substantiellen Abbau (START). Doch stand dieser Schritt schon im Schatten einer gegenläufigen politischen und strategischen Entwicklung.
Mit der Ankündigung des amerikanischen Präsidenten George W. Bush am 13. Dezember 2001, vom ABM-Vertrag zurückzutreten, wurde sie faktisch unumkehrbar. Donald Trump schrieb sie fort, als er am 20. Oktober 2018 erklärte, dass sich die USA nicht mehr an den INF-Vertrag gebunden fühlten, und am 21. Mai 2020 öffentlich ankündigen ließ, dass die Vereinigten Staaten aus dem Open-Sky-Abkommen – einer multilateralen Vertrauensbildenden Maßnahme der frühen 1990er Jahre - austreten würden.
Selbst wenn es zutreffen sollte, dass Washington in allen Fällen auf einseitige Vertragsbrüche Moskaus reagierte, war nicht nachzuvollziehen, warum die USA sehenden Auges die letzten Reste an Vertrauen und Berechenbarkeit aus den amerikanisch-russischen Nuklearbeziehungen nahmen. Heute sind vertragliche Vereinbarungen in diesem Bereich kaum noch das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind. Aber die Systeme und mit ihnen die Gefahr einer mehrfachen totalen Vernichtung sind noch da. Der Bericht des gerade veröffentlichte Stockholm International Peace Research Institute für 2024 listet für die USA und Russland jeweils mehr als 5.000 atomare Sprengköpfe, davon rund 2.100 in höchster Einsatzbereitschaft.
Das erklärt, warum der amerikanische Präsident Joe Biden – Papiere hin oder her - offensichtlich versucht, zumindest ein entscheidendes Element der nuklearen Logik, eben MAD, zu retten. Sollte sein russischer Gegner Grund zu der Annahme haben, dass der Westen – indirekt oder unmittelbar – an einer Ausschaltung der russischen Zweitschlagsfähigkeit arbeitet, wären die Folgen kaum kalkulierbar.
Immerhin besitzt die Ukraine mit weitreichenden Kampfdrohnen schon jetzt die Möglichkeit, auch hochentwickelte Frühwarnsysteme tief in Russland zu treffen. Inzwischen dürfen erste Schläge dieser Art als gesichert gelten. In der Logik der russischen Nukleardoktrin gelten sie als Angriff. Das wissen auch die Amerikaner und bestehen darauf, dass die von ihnen gelieferten weitreichenden Systeme nicht gegen sowjetische Frühwarnanlagen eingesetzt werden.
Joe Bidens mehrfach und mit Nachdruck erklärte Maxime, „einen dritten Weltkrieg vermeiden“ zu wollen, war keine Floskel. Offenkundig sieht das auch Wladimir Putin so. Die Eröffnung der zweiten Phase der Übung mit taktischen Atomwaffen und die Entsendung eines nukleargetriebenen, allerdings ausdrücklich nicht mit Nuklearwaffen bestückten russischen U-Bootes nach Kuba, also vor die Haustür der USA, lassen sich auch als kühl kalkulierte Gesten im Rahmen der tot geglaubten MAD-Logik lesen. Da der starre weltpolitische Rahmen des Kalten Krieges inzwischen komplett zerbröselt ist, können Demonstrationen wie diese allerdings schnell zu falschen Interpretationen führen. Vor allem dann, wenn ein Akteur nichts mehr zu verlieren hat.