Ja, der Spion spielt eine Rolle. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Seit Januar 1970 ist Günter Gulliaume im Kanzleramt tätig, seit dem Herbst 1972 sogar im Persönlichen Büro des Bundeskanzlers, und hat damit grundsätzlich auch Zugriff auf streng geheime Informationen. Obgleich die zuständigen Behörden seit Januar und der Kanzler seit Mai 1973 wissen, dass der Referent im Dienst der Stasi steht, lassen sie ihn gewähren, bis im Frühjahr 1974 die Beweise beisammen sind. Eine abenteuerliche Geschichte.
Aber der Grund für den Rücktritt Willy Brandts als Bundeskanzler ist diese Affäre nicht. Sie ist ein Anlass, wenn man so will der ziemlich dicke Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringt. Tatsächlich zieht Willy Brandt an diesem 7. Mai 1974 die Konsequenzen aus seiner angeschlagenen körperlichen, vor allem aber psychischen und emotionalen Verfassung.
„In Wahrheit“, wird er Jahre später vor laufender Kamera sagen, „war ich kaputt, aus Gründen, die gar nichts mit dem Vorgang zu tun hatten, um den es damals ging.“
Sicher, im Vorfeld des Rücktritts gibt es auch gravierende äußere Entwicklungen, auf die der Kanzler kaum einen oder gar keinen Einfluss nehmen kann, darunter das krasse Versagen des Chefs des zuständigen Bundesamtes für Verfassungsschutz Günther Nollau, das zweifelhafte Taktieren des vom Koalitionspartner FDP gestellten Innenministers Hans-Dietrich Genscher oder die undurchsichtige Rolle einiger enger Parteifreunde, allen voran des Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, der schon seit einiger Zeit und nicht ohne Grund annimmt, dass Brandt mit sich und seinem Amt überfordert sein könnte.
Ausschlaggebend für Willy Brandts überraschende und übereilt wirkende Entscheidung sind diese Faktoren nicht. Vielmehr bricht sich jetzt, in der Stunde großer Schwäche und Verwundbarkeit, vieles eine Bahn, was sich über die Jahre und Jahrzehnte aufgestaut hat.
Insbesondere die Folgen und Begleiterscheinungen seiner großen Einsamkeit. So merkwürdig das auch im Falle eines Mannes klingen mag, der seit Beginn seiner Karriere in den frühen Fünfzigerjahren immer mitten im politischen, sozialen, kulturellen und nicht zuletzt medialen Getümmel zu finden war. Wenn sich die langjährigen Gefährten, mit denen ich über ihn sprechen konnte, in einer Beobachtung einig waren, dann in dieser. Das kann man in meiner 2001 erschienen Studie
Willy Brandt. Die Biographie nachlesen.
Weil es in den dramatischen Tagen und Stunden dieses Frühjahrs 1974 offenbar niemanden gibt, dem sich Willy Brandt ohne Wenn und Aber anvertrauen kann, weiß auch kaum jemand, warum der Kanzler so „kaputt“ ist. Tatsächlich zahlt er jetzt den hohen Preis für seine unerhörte Karriere.
Denn genau genommen war Brandts Wechsel vom Amt des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, das er von 1957 bis 1966 mit Leidenschaft und riesigem Zuspruch ausübte, nach Bonn das Ergebnis einer Serie von Zufällen - und der Planung anderer, allen voran Herbert Wehners.
Selbstverständlich wird niemand - wie Willy Brandt 1966 beziehungsweise 1969 - wider Willen Außenminister oder Bundeskanzler. Aber was diese Ämter wirklich bedeuten, weiß man erst, wenn man sie hat. So gesehen sitzt Brandt jetzt in der Karrierefalle.
Als er 1966, inzwischen Außenminister, einmal nach Berlin fliegt und auf die Lichter der Stadt hinunterblickt, fragt er sich: „Kann mir irgend jemand sagen, warum ich so verrückt gewesen bin, hier wegzuziehen?“ Brandt selbst kann das offenbar nicht. Und so werden die folgenden acht Jahre, allen spektakulären Erfolgen – darunter 1972 die Verleihung des Friedensnobelpreises – zum Trotz, auch zu einer inneren Durststrecke.
Zumal sich jetzt zeigt, welche Kraft es gekostet hat, die vielen Rückschläge und Enttäuschungen, die auch dieser Karrierist erlebt hat, vor allem aber die jahrzehntelangen Diffamierungskampagnen auszuhalten: Dass Willy Brandt 1933 als junger Mann Deutschland verließ und die Hitlerdiktatur vom skandinavischen Exil aus bekämpfte, diente seinen Gegnern nach 1945 als willkommener Anlass für eine in dieser Form beispiellose Diffamierung.
Dass eine Mehrheit der Deutschen Willy Brandt auch wegen dieser frühen mutigen Entscheidung achtet, hilft ihm nicht. Einer der das ziemlich klar sieht, ist der Freidemokrat Walter Scheel, der während der Kanzlerschaft Willy Brandts als Außenminister der sozialliberalen Koalition amtiert und sein volles Vertrauen besitzt.
Ich lernte Walter Scheel kennen, als wir beide – er als Vorsitzender des Kuratoriums, ich als Mitglied des Vorstandes – nach dem Tod Willy Brandts die 1994 durch den Bundestag ins Leben gerufene Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung (BWBS) mit aufbauten. Unsere Gespräche nicht nur über Willy Brandt sind mir in lebhafter Erinnerung.
Einige Wochen nach dessen Sturz und wenige Tage bevor er selbst als Bundespräsident die nächste Sprosse der Karriereleiter nahm, schrieb Walter Scheel dem langjährigen Weggefährten, zu den Jahren ihrer Zusammenarbeit habe auch die wichtige Erfahrung gehört, „dass man in der Politik nicht immer siegen muss. Belastung ertragen, ja, leiden können, darauf kommt es an, wenn man das Herz des Volkes will“. Willy Brandt hat dieses Herz auch deshalb erobert, weil er sichtbar an sich litt.