Gregor Schöllgen – Historiker

Der sechste Krieg

30.10.2023 
Überraschend war der Zeitpunkt. Nicht der Angriff. Israel musste damit rechnen, dass die von Iran aus gesteuerten Milizen der Nachbarschaft über kurz oder lang zuschlagen würden. Dass im Morgengrauen des 7. Oktober 2023 offenkundig alle – die Regierung, die Geheimdienste, das Militär – kalt erwischt wurden, lag wohl auch an der schwierigen inneren Lage des Landes.

Die von Premierminister Benjamin Netanjahu forcierte Justizreform spaltet Israel wie wenige Ereignisse zuvor. Dass Reservisten der israelischen Armee wegen der Reformpläne öffentlich damit drohten, den Dienst zu verweigern, haben Israels Gegner offenbar als zusätzliche Einladung verstanden. Sie haben sich verschätzt. Wie immer bei einer Bedrohung von außen schließt Israel auch jetzt seine Reihen; wie lange dieser Schulterschluss hält, wird man sehen.

Dass die Terroristen den 6. Oktober wählten, war kein Zufall. Am 6. Oktober 1973, also auf den Tag genau 50 Jahre zuvor, eröffneten ägyptische und syrische Verbände den vierten Nahostkrieg, der als „Jom-Kippur-Krieg“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Auch damals wurde Israel überrascht, obgleich es Hinweise und Warnungen gab. Zwar gewann das Land, auch dank massiver amerikanischer Unterstützung, bald die Oberhand, doch haben die Anfangserfolge der arabischen Armeen seither einen festen Platz in der kollektiven Erinnerung auch der Palästinenser.

Die heutigen schärfsten Gegner Israels, allen voran der Iran, hielten sich 1973 bedeckt. Mit dem Sturz des westlich orientierten, degenerierten Schahregimes und der Etablierung der Islamischen Republik Iran in den ersten Monaten des Jahres 1979 begann sich das zu ändern.

Hinzu kam ein Ereignis, das mit den iranischen Mullahs zunächst nichts zu tun hatte, aber von diesen langfristig genutzt wurde: Die von Israel eröffnete "Schlacht um Beirut", die vom 14. Juni bis zum 21. August 1982 tobte, ursprünglich der Vertreibung der Palästinensischen Befreiungsfront PLO und der syrischen Armee aus dem Libanon diente, Tausende Tote und Verwundete forderte und zu den ersten Antikriegsdemonstrationen in der Geschichte Israels führte, öffnete dem Iran diese Tür.

Heute verfügt der Iran in der Nachbarschaft Israels – jedenfalls mittelbar - über schlagkräftige Verbände, darunter vor allem die Hamas in Gaza und die Hisbollah im Libanon. Dort fand die letzte Schlacht im Sommer 2006 statt. Für Israel war die Bilanz dieses zweiten Libanonkrieges seit 1982, mit dem man unter anderem auf die Entführung zweier Soldaten durch die Hisbollah reagierte, ernüchternd.

Da ein Großangriff nicht in Betracht kam, entschloss sich die israelische Militärführung 2006 zu einem massiven Einsatz der Luftwaffe bei zurückhaltendem Einsatz des Heeres. Fast fünf Wochen dauerte dieser Krieg. Es war das erste Mal, dass die stärkste Armee der Region einen in klassischen militärischen Kategorien deutlich unterlegenen Gegner nicht in den Griff bekam. Das eigentliche Ziel, die beweglichen Raketen der Terrormiliz vollständig zu vernichten, erreichte man nicht. Besaß die Hisbollah 2006 gut 15.000 Raketen, sind es heute geschätzte 140.000, darunter zielgenau navigierbare. Eine immense Bedrohung.

Während die Hisbollah vom südlichen Libanon aus operierte, richtete die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas - wie auch der Islamische Dschihad ein Abkömmling der ägyptischen Muslimbrüder - ihre Operationsbasis im Gazastreifen ein. Das war für Israel auch deswegen eine äußerst gefährliche Entwicklung, weil Ariel Scharon - als Premierminister um einen Ausgleich mit den Palästinensern ringend - 2005 den endgültigen Rückzug der israelischen Armee und der israelischen Siedler aus Gaza durchgesetzt hatte. Jetzt nutzte die Hamas die neue Lage und nahm Israel mit Raketen, die sie zum Teil durch Tunnel aus Ägypten her-anschaffte, unter Dauerbeschuss.

Drei Mal, um die Jahreswende 2008/09, im November 2012 und im Sommer 2014, intervenierte Israels Armee massiv. Weil die Verluste unkalkulierbar und das Risiko, die ohnehin verhaltene internationale Unterstützung zu verlieren, zu hoch waren, sah man aber in allen Fällen von einer neuerlichen Besetzung des Gazastreifens ab. So konnten bei der dritten Intervention 80.000 Soldaten nicht verhindern, dass die Hamas und ihre Verbündeten selbst während dieses Krieges 5.000 Raketen auf Israel abfeuerten.

Am Ende gelang es Israel nicht, eine Terrorgruppe zu besiegen, deren Kern damals aus 3.000 Kämpfern bestand. Das ist auch ein entscheidender, wenn nicht der maßgebliche Grund, warum es die israelischen Streitkräfte bei den folgenden Interventionen im Mai 2021 und im August 2022 im Wesentlichen bei schweren Luftangriffen beließen.

Inzwischen hat sich die Lage weiter zuungunsten Israels verändert. Die offenbar lange und präzise vorbereitete Aktion des 6. Oktobers zeigt, wozu die Hamas heute willens und in der Lage ist. Das gilt auch für die digitale Dokumentation des barbarischen Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung.

Warum auch immer Israel den Anschlag nicht kommen sah, sicher ist, dass wie schon vor 50 Jahren beim vierten Nahost- beziehungsweise Jom-Kippur-Krieg auch jetzt ein Moment einen entscheidende, wenn nicht die maßgebliche Rolle spielte: die Unterschätzung des Gegners, die bekanntlich die Kehrseite des Glaubens an die eigene Überlegenheit ist.

Welche Folgen dieser sechste Gaza-Krieg haben wird, lässt sich noch nicht absehen. Das gilt für die Weltpolitik und die Weltwirtschaft, und es gilt natürlich auch für den Friedensprozess in Nahost, der vor 50 Jahren - mit dem Waffenstillstand im Jom-Kippur-Krieg beginnend - zaghaft einsetzte. So wie es aussieht, wird die nicht zuletzt durch die USA forcierte Annäherung zwi-schen Saudi-Arabien und Israel einen schweren Rückschlag erle-ben. Dass diese Entwicklung dem Iran, dem großen Rivalen Saudi-Arabiens in diesem Teil der Welt, in die Karten spielt, liegt auf der Hand.

Auch nicht absehbar sind die Begleiterscheinungen und Folgen der militärischen Reaktion Israels, an deren Legitimation es keinen Zweifel geben kann. Zwar unterhält das Land die schlagkräftigste Armee der Region, verfügt zudem über Atomwaffen. Doch geht es bei der Vernichtung der Strukturen von Hamas nicht um eine offene Feldschlacht, sondern im wahrsten Sinne des Wortes um einen Krieg im Untergrund.

Und dann ist Israel erpressbar. Denn seit der Staatsgründung gilt die Maxime, dass kein Israeli in den Händen der Gegner bleibt. 2006 war die Gefangennahme zweier israelischer Soldaten ein Anlass für den zweiten Libanonkrieg. Zuletzt kam 2011 ein von der Hamas gefangen gehaltener Soldat im Austausch gegen mehr als 1.000 palästinensische Häftlinge frei; einige von ihnen bekleiden heute führende Positionen in der Terrororganisation. Seit dem Angriff vom 6. Oktober werden mehr als 200 Israelis und Bürger anderer Nationen beziehungsweise mit doppelter Staatsbürgerschaft von der Hamas gefangen gehalten.

Auf palästinensischer Seite zahlt einmal mehr die Zivilbevölkerung den Preis für den Terrorakt der Hamas und die Vergeltung durch die israelische Armee. Darauf hat am 24. Oktober auch der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres hingewiesen: „Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattfanden. Das palästinensische Volk war 56 Jahre lang einer erdrückenden Besetzung ausgesetzt.“ Damit verwies Guterres auf den sogenannten Sechstagekrieg des Juni 1967, einen Präventivschlag Israels gegen Ägypten, Jordanien und Syrien, der unter anderem zur Annexion des ägyptischen Gazastreifens und der jordanischen sogenannten Westbank führte. Beide Gebiete werden von Palästinensern bewohnt.

Das palästinensische Volk, so Guterres weiter, „hat miterlebt, wie sein Land ständig durch Siedlungen verschlungen und von Gewalt heimgesucht wurde. Seine Wirtschaft kam zum Stillstand; seine Leute wurden vertrieben und seine Häuser zerstört … Aber die Beschwerden des palästinensischen Volkes können die entsetz-lichen Angriffe der Hamas nicht rechtfertigen. Und diese entsetzlichen Angriffe können die kollektive Bestrafung des palästinensischen Volkes nicht rechtfertigen.“

Die Chance, diese Spirale der Gewalt zu beenden oder auch nur anzuhalten, ist heute geringer denn je. Wie es dahin kommen konnte, und wie sich die heutige Lage im Lichte der Geschichte darstellt, kann man in meinem 2017 erschienenen Buch Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte nachlesen.