Sie haben wieder gemalt. Das Ergebnis aus Pekings geopolitischer Werkstatt, eine neue Landkarte, ist weniger wegen des Ergebnisses interessant, denn das kennt man seit geraumer Zeit, als wegen des Zeitpunkts, an dem sie veröffentlicht wurde: Am 9. und 10. September tagte in Neu Delhi der G-20-Gipfel – erstmal seit seiner Gründung 1999 ohne den chinesischen Staats- und Parteichef. Wenige Tage zuvor legte Peking die neue Karte vor.
Zwischen China und Indien steht seit Jahrzehnten ein handfester Konflikt in einer der sensibelsten Gegenden der Weltpolitik. Die Kaschmirregion hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Reihe auch militärischer Konflikte zwischen Indien einerseits, Pakistan und China andererseits gesehen. Alle drei sind Nuklearmächte. Alle drei gehören zu den bevölkerungsreichsten Ländern der Erde. Alle drei haben vieles zu verlieren.
Bezogen auf die Zahl der Einwohner liegen Indien und China inzwischen mit jeweils gut 1,4 Milliarden Menschen fast gleichauf. China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde hinter den USA und will diese ablösen. Indien liegt mit gewaltigem Abstand auf dem sechsten Platz, hat aber soeben die vormalige Kolonialmacht Großbritannien überholt und will bis 2047, dem hundertjährigen Jubiläum der Unabhängigkeit, zu den führenden Industrienationen der Erde gehören. Das alles fordert nicht zuletzt den Zugriff auf natürliche Ressourcen aller Art. Und die werden immer knapper.
Hier liegt einer der Gründe für den brisanten Konflikt zwischen China und Indien. Im Herbst 1962 eskalierte er erstmals in einem Krieg, den der Westen auch deshalb kaum wahrnahm, weil er sich im Windschatten der Kubakrise abspielte und gerade einmal vier Wochen dauerte. Nach dem Sieg über seinen Nachbarn annektierte China beträchtliche Territorien der Kaschmirregion.
Zwar kam es Anfang September 1993 zu einer Vereinbarung über die Respektierung der gegebenen Kontrolllinie, doch war das nicht mehr als ein fragiler Waffenstillstand. Zuletzt gerieten die Streitkräfte der Rivalen in Kaschmir Ende Juni 2020 aneinander. Es gab Tote.
Heißer Kern des Konflikts ist das Plateau von Aksai Chin, das sich China 1962 einverleibte. Dass Peking dieses Gebiet jemals wieder freiwillig an Indien abtreten wird, kann man auch deshalb ausschließen, weil es für Chine eine strategisch wichtige Landverbindung zwischen den Problemregionen Tibet und Xingjiang darstellt. Hinzu kommen gesicherte gewaltige Wasserreserven und vermutete Bodenschätze aller Art.
Vor diesem Hintergrund wird jedes Gipfeltreffen indischer Premierminister und chinesischer Staatspräsidenten auch zu einer Wasserstandsmeldung in der Kaschmirfrage. Dass Chinas Präsident Xi Jiping erst gar nicht in Neu Delhi erschien, sondern den Premier schickte und damit Indiens Regierungschef Narendra Modi brüskiert, ist ein Signal; dass Indien am Rande des Gipfel gemeinsam mit den USA, der EU, Saudi-Arabien und den Vereinigten Staaten ein gewaltiges Konkurrenzprojekt zu Chinas Neuer Seidenstraße ankündigte, ist ein anderes.
Mit der neuen Landkarte hat China schon im Vorfeld des Gipfels keinen Zweifel an seinen weltpolitischen Ambitionen zugelassen. Mit dem Infrastrukturprojekt zieht Indien nach. Wir sollten das im Auge behalten. Denn der latente Konflikt zwischen Indien und China namentlich in Kaschmir hat ein Potential, das die meisten anderen weit in den Schatten stellt.
Wie er entstanden ist und welche gefährliche Dynamik er birgt, kann man in meinem Buch
Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941-1991 nachlesen.