Der Höhepunkt einer Karriere ist in der Regel auch ihr Scheitelpunkt. Fortan geht’s bergab – mal langsam und sanft, mitunter steil und krachend.
Als Willy Brandt, amtierender Bundeskanzler, Vorsitzender der SPD und eben erst gekürter Friedensnobelpreisträger, am 19. November 1972, also vor einem halben Jahrhundert, für seine Partei 45,8 Prozent der Stimmen einfährt, denkt niemand an ein vorzeitiges Ende dieser Karriere.
Auf den ersten Blick ist der Wahlsieg ein bahnbrechender Erfolg. Erstmals in der noch ziemlich jungen Geschichte der Bundesrepublik stellt die SPD im Deutschen Bundestag die stärkste Fraktion. Vor allem aber lässt sich das Ergebnis auch als Bestätigung der heftig umstrittenen Ost- und Deutschlandpolitik Willy Brandts, aber auch seiner reformfreudigen Innenpolitik lesen.
Tatsächlich ist der Wahlsieg auch der Beginn eines offenbar unaufhaltsamen Abstiegs. Schon während des Wahlkampfs haben enge Mitarbeiter Anzeichen für eine aufziehende schwere körperliche und seelische Krise beobachtet. Nach dem Triumph liegt Brandt im Krankenhaus. Seine Regierung wird an ihm vorbei gebildet.
Die Strippen ziehen Herbert Wehner, der mächtige Fraktionsvorsitzenden der SPD, und Helmut Schmidt, der das Finanzressort übernimmt und auf seine Chance wartet, um die Nachfolge Brandts als Bundeskanzler antreten zu können.
Aber weder die beiden noch sonst wer aus dem Umfeld Willy Brandts – auch nicht Günter Guillaume, Brandts Persönlicher Referent und DDR-Spion – werden ihn stürzen. Er selbst ist es, der die Notbremse zieht.
Brandts Rücktritt am 7. Mai 1974 wird zwar durch Guillaumes Enttarnung ausgelöst, ist aber tatsächlich eine Konsequenz aus der persönlichen Lage, in der sich der Kanzler befindet: Im Frühjahr 1974 ist Willy Brandt mit sich und seinem Amt offenkundig überfordert.
Und das wiederum ist auch eine Folge eines jahrzehntelangen Kampfes, der beginnt, als sich der junge Brandt, damals noch mit seinem Geburtsnamen „Herbert Frahm“, entschließt, dem nationalsozialistischen Deutschland den Rücken zu kehren und die deutsche Diktatur vom skandinavischen Exil aus zu bekämpfen. Viele Bundesbürger sehen ihm das auch noch 1974 nicht nach.
Dieser lebenslange Kampf Willy Brandts hat mich schon immer fasziniert und war ein entscheidender Grund, mich in einer
Biographie mit dem Mann zu beschäftigen. Das Buch ist seit 2001 in etlichen Auflagen erschienen und bis heute eines meiner erfolgreichsten.