Am 3. Oktober, also am Tag der deutschen Vereinigung, unterzeichnete Polens Außenminister eine Note, die der Bundesregierung per Kurier zugestellt wurde. Ihr genauer Inhalt ist auch vier Wochen später noch nicht bekannt. Dem Vernehmen nach geht es um Schäden und Folgelasten Polens infolge des Zweiten Weltkrieges, also im Kern um Reparationsforderungen in Höhe von gut 1,3 Billionen Euro. Erhoben werden diese Forderungen seit Jahrzehnten, zuletzt Anfang September von der polnischen Regierungspartei PiS.
Außer Frage steht, dass Polen unter dem deutschen Eroberungs-, Beute- und Vernichtungsfeldzug der Jahre 1939 bis 1945 gelitten hat wie wenige andere Länder und Völker in Europa. Vergleichbares gilt für die Ukraine, die damals zur Sowjetunion gehörte. Die historische Verantwortung für das, was Deutsche diesen Völkern angetan hat, kennt keine zeitliche Grenze.
Außer Frage steht allerdings auch, dass Deutschland, mit den alliierten Vereinbarungen am Ende des Zweiten Weltkrieges beginnend, die Schäden umfassend beglichen hat, soweit sie sich überhaupt begleichen lassen.
Zu diesen Reparationsleistungen zählte neben erheblichen finanziellen Aufwendungen auch die territoriale Abtretung der Gebiete östlich der Flüsse Oder und Neiße – also des südlichen Ostpreußens, fast ganz Schlesiens, Pommerns sowie des östlichen Brandenburgs – an Polen. Das entsprach insgesamt einem Fünftel des Gebiets des vormaligen Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937.
Mit den Gebietsabtretungen wurden auch die enormen territorialen Verluste Polens im Osten kompensiert: Was Polen im Westen zulasten Deutschlands zugeschlagen wurde, hatte es im Osten zugunsten der Sowjetunion verloren. Die Abtretung großer Gebiete östlich des Flusses Bug an Weißrussland und die Ukraine bedeutete einen enormen Verlust seines territorialen Besitzstandes in den Grenzen von 1939.
Diese sogenannte Westverschiebung Polens setzte Josef Stalin 1945 gegenüber seinen beiden westlichen Partnern – dem britischen Premier Winston S. Churchill und dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt beziehungsweise dessen Nachfolger Harry S. Truman – durch. Damit bestätigten Roosevelt und Churchill im Wesentlichen die Absprachen Stalins mit Hitler vom Sommer 1939. Die Auflösung der Sowjetunion bis Ende 1991 änderte daran nichts.
Diese verwickelte Geschichte habe ich vor einiger Zeit einmal nachgezeichnet.
Wer heute Reparationsforderungen stellt, thematisiert zwangsläufig auch die von Deutschland an Polen abgetretenen Gebiete und damit die polnische Westgrenze; wer die polnische Westgrenze thematisiert, macht zwangsläufig auch die polnische Ostgrenze zum Thema; wer die polnische Ostgrenze zum Thema macht, thematisiert zwangsläufig auch das Verhältnis Polens zur Ukraine und zu Weißrussland und findet sich unversehens im Zeitalter der Weltkriege wieder.
Das kann niemand wollen. In Warschau und Berlin nicht, und in Kiew oder Minsk auch nicht. Schon gar nicht in einer Zeit, in der Russland die bestehende europäische Ordnung mit Gewalt und nicht absehbaren Folgen in Frage stellt.