Es wird eng. Zuletzt haben der Leiter des Berliner Büros von Gerhard Schröder und seine Mitarbeiterinnen dem vormaligen Bundeskanzler den Rücken gekehrt. Das wiegt schwer. Denn einige von ihnen haben für Schröder schon gearbeitet, als er noch Kanzler war. Das Verhältnis war von hohem Vertrauen und großer Loyalität geprägt. Jetzt sind sie gegangen. Mit gutem Grund.
Gerhard Schröder nimmt seit vielen Jahren, direkt oder mittelbar, Funktionen im russischen Wirtschaftsapparat wahr. Zum russischen Präsidenten, dem Herrn über diesen Apparat, unterhält er eine freundschaftliche Beziehung. Dagegen ist, für sich genommen, nichts einzuwenden.
Aber dass Schröder nach dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht eindeutig auf Distanz zu Wladimir Putin gegangen ist und diese Funktionen niedergelegt hat, ist nicht akzeptabel. Denn was immer Schröder tut oder auch unterlässt, tut oder unterlässt er auch als ehemaliger deutscher Bundeskanzler.
Dieses Verhalten Gerhard Schröders hat mich überrascht. Denn in einem
Buch, das er und ich zur Lage in der Welt geschrieben haben und das vor gut einem Jahr erschienen ist, haben wir zu diesen Fragen klar Stellung bezogen.
Stellung zu beziehen hieß und heißt für mich zum einen: zu verstehen, woher das übersteigerte, für Außenstehende paranoid anmutende russische Sicherheitsbedürfnis rührt und welche Fehler der Westen – bewusst oder auch nicht – in diesem Zusammenhang gemacht hat.
Darüber muss man sprechen. Auch und gerade jetzt.
Stellung zu beziehen hieß und heißt für mich aber auch: klipp und klar zu sagen, dass kein noch so legitimes Sicherheitsbedürfnis eine Grenzüberschreitung wie die des 24. Februars 2022 legitimiert.
In diesem Sinne haben Schröder und ich in jenem Buch unter anderem betont, dass die „Annexion der Krim“ ein „klarer Bruch des Völkerrechts“ gewesen sei, dass der Westen die „eingegangenen Verpflichtungen gegenüber der Ukraine zu erfüllen und sie bei der Sicherung ihrer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit zu unterstützen“ habe und dass eine russische Intervention in einem Nachbarland nicht infrage komme.
Das bezog sich um die Jahreswende 2020/21 auf das brutale Vorgehen des belarussischen Diktators Lukaschenko gegen Oppositionelle, die wegen der manipulierten Wahl vom August 2020 auf die Barrikaden gingen: „Natürlich steht es den Belarussen frei, die Verfassung und Verfasstheit ihres Landes zu bestimmen und einen Autokraten nach einem Vierteljahrhundert mit dem Stimmzettel vom Hof zu jagen. Kein anderes Land hat ein Recht, diese Entscheidung mit Gewalt infrage zu stellen oder gar zu revidieren, auch nicht Russland.“
Für mich waren und sind diese Positionen nicht hinterfragbar. Und für Gerhard Schröder muss das jedenfalls zu diesem Zeitpunkt auch gegolten haben.
Dass er jetzt schweigt, ist tragisch. Denn so kommt eine Lebensleistung unter die Räder, die es verdient, in Erinnerung zu bleiben. Gerhard Schröder gehört zu den wenigen Menschen, denen - aus außerordentlich bescheidenen Verhältnissen kommend - nicht nur eine prestigeträchtige bürgerliche Karriere, in seinem Falle die des Rechtsanwalts, sondern auch eine große politische Laufbahn gelungen ist.
Schröder war Abgeordneter des Deutschen Bundestages und des Niedersächsischen Landtages, von 1990 bis 1998 Ministerpräsident seines Heimatlandes Niedersachen, von 1998 bis 2005 Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und von 1999 bis 2004 Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Es war eine große und insgesamt erfolgreiche Karriere. Die 34,2 Prozent, die Schröder in der verlorenen Bundestagswahl 2005 – trotz oder gerade wegen seines Reformprogramms – holte, hat seine Partei seither auf Bundesebene nicht einmal im Ansatz erreicht.
Gewiss, der Mann provoziert und polarisiert, stößt schon mal sein Gegenüber vor den Kopf. Ich weiß, wovon ich spreche. Aber Schröder ist eben auch ein jovialer und verbindlicher, weltoffener und lernfähiger Mensch. Und er steht zu seinem Wort, eine Eigenschaft, die heute eher selten anzutreffen ist.
Ich weiß das so genau, weil ich vor einigen Jahren die
Biographie Gerhard Schröders ergründen und aufschreiben konnte. Das war möglich, weil Schröder mir uneingeschränkten Zugang zu sämtlichen Quellen, auch den persönlichen gewährte. Für einen Mann mit seiner Biographie und in seiner Position ist das ganz und gar ungewöhnlich.
Das fand auch die Presse, als das Buch im September 2015 erschien und von der Bundeskanzlerin und ihrem Vorgänger gemeinsam mit mir in Berlin vorgestellt wurde: „Gregor Schöllgens Biographie hat tatsächlich 1040 Seiten“, schrieb die Süddeutsche Zeitung damals. „Und es sieht in den … Sälen vom Tagungszentrums der Berliner Pressekonferenz fast so aus, als sei pro Seite ein Journalist gekommen.“
Und was die aus dem Mund Angela Merkels vernahmen, mochten viele so nicht glauben. Aber die Kanzlerin ließ keinen Zweifel an den Leistungen, namentlich an der Bedeutung des Reformprogramms ihres Vorgängers.
Dabei blieb Merkel auch während der großen Interviews, die sie im Herbst 2021 anlässlich ihres Ausscheidens aus dem Kanzleramt gab: „Wir haben heute“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung, „ausgehend von den Reformen der Agenda 2010 von Gerhard Schröder, eine viel bessere Beschäftigungssituation. Die Arbeitslosigkeit ist gegenüber 2005 quasi halbiert.“
Das war kein Selbstläufer, ganz im Gegenteil: Schröder hielt gegen enorme Widerstände von allen möglichen Seiten an seinen Reformen fest, obgleich er wusste, dass ihn diese Überzeugung die Kanzlerschaft kosten könnte. Es gibt nicht viele Politiker, von denen sich solches sagen lässt.
Es ist nicht die einzige Leistung, die sich mit seinem Namen verbindet. Dass Schröder 2003 gegen heftige Widerstände aus den Reihen der Opposition und vieler Verbündeter Deutschland aus einem Krieg heraushielt, den die Vereinigten Staaten unter bewusst falschem Vorwand gegen den Irak führten, war ein Kraftakt.
Beinahe 17 Jahre ist es her, dass er das Kanzleramt räumen musste. Vieles ist seitdem passiert. Auch mit Gerhard Schröder. Dass er sich aus der aktiven Politik verabschiedet und den Weg in die Wirtschaft gesucht und gefunden hat, ist legitim.
Es gab Zeitgenossen, und auch ich gehörte zu ihnen, die sich eine andere Entscheidung gewünscht hätten und ihn fragten, warum er nicht die Rolle eines Elder Statesman annehmen und die politischen Entwicklungen kommentierend und wägend begleiten wolle. So wie es seine beiden sozialdemokratischen Vorgänger Willy Brandt und Helmut Schmidt mit großem Erfolg getan hatten.
Die Erfahrung und das Potenzial hatte er: Schröder konnte und kann komplexe Sachverhalte analytisch klar durchdringen und auf den Punkt bringen. Das war übrigens ein Grund für seine herausragenden Qualitäten als Wahlkämpfer.
In die Rolle des weisen alten Mannes mochte er nicht schlüpfen, und heute muss ich sagen: Es war wohl auch gut so. Denn aus dem ein oder anderen Projekt, wie besagtem gemeinsamen Buch, weiß ich, dass es nicht Schröders Ding war und ist, gewissermaßen im Schlepptau Willy Brandts und Helmut Schmidts das Weltgeschehen zu ergründen und dem Weltgeist auf die Spur zukommen.
In anderer Hinsicht blieb Gerhard Schröder allerdings seinen beiden großen Vorgängern über das Ende ihrer Kanzlerschaften hinweg treu: Alle deutsch-sowjetischen beziehungsweise deutsch-russischen sogenannten Erdgas-Röhren-Geschäfte, zuletzt die sogenannte Ostseepipeline, sind während der Amtszeiten sozialdemokratischer Kanzler geschlossen worden.
Die ersten beiden der Jahre 1970 und 1972 während der Kanzlerschaft Willy Brandts, das dritte und das vierte 1974 und 1981 in der Regierungszeit Helmut Schmidts, das fünfte 2005 während der Kanzlerschaft Gerhard Schröders. Dieser Vertrag über die Ostseepipeline oder auch „Nord Stream 1“ steht in der Tradition der vier vorauf gegangenen. Auch dieses Projekt ist ein gesamteuropäisches.
Im Übrigen stammte die Idee einer direkten Pipeline von Russland durch die Ostsee nach Deutschland weder von Putin noch von Schröder. Sie war erstmals Ende der achtziger Jahre von finnischen und schwedischen Firmen geprüft und 1997 vom Ostseerat aufgegriffen worden. Putin fand sie vor, als er ins Amt kam.
Schröder blieb anfänglich skeptisch, auch nachdem ihn der finnische Ministerpräsident im Februar 2001 brieflich darum gebeten hatte, „dass Deutschland mit uns die Auffassung über die besondere Bedeutung der Gasleitung durch die Ostsee teilen könnte“. Mit der Pipeline, so das Argument der Finnen, könnten die Gaslieferungen nach Europa „erheblich diversifiziert“ werden.
Ich habe darüber wiederholt berichtet, sowohl in meiner Biographie Gerhard Schröders oder in meiner
Geschichte der deutschen Außenpolitik von 1945 bis zur Gegenwart als auch in einigen Zeitungsartikeln zum Beispiel für die
SZ oder die
FAZ.
Denn ich fand und finde: Das Projekt ist grundsätzlich sinnvoll, solange es nicht in eine einseitige Abhängigkeit von Russland führt. Das gilt sowohl für Nord Stream 1, deren beiden ersten Stränge seit 2012 in Betrieb sind, als auch für das später vereinbarte Projekt Nord Stream 2, deren beiden Stränge, obgleich inzwischen gefüllt, wohl nie in Betrieb gehen werden.
Die EU sah das lange Zeit ähnlich und stufte die Ostseepipeline schon früh als Teil des Transeuropäischen Energienetzes und als „Projekt von europäischem Interesse“ ein. Das hat sich bekanntlich schon lange vor dem Überfall auf die Ukraine geändert. Sowohl die EU als vor allem auch die USA wurden zu vehementen Gegnern von Nord Stream 2. Nach Kriegsbeginn kamen scharfe Sanktionen gegen Russland hinzu. Zurecht.
Nur Nord Stream 1 blieb außen vor. Das wirft Fragen auf. Wie kann es sein, dass Nord Stream 1 nach wie vor offen ist und russisches Gas nach Europa strömt? Wie kann es sein, dass bald zwei Wochen nach dem Angriff auf die Ukraine russische Gaslieferungen durch Nord Stream 1 Devisen in die Kriegkasse des Angreifers spülen? Wir warten auf eine Antwort.
Eine andere Frage ist, ob Gerhard Schröder die Posten als Vorsitzender der Verwaltungsräte der beiden Betreibergesellschaften hätte übernehmen dürfen. Um nur von diesen beiden zu reden. Rechtlich war und ist dagegen nichts einzuwenden, zumal Schröder vorher sämtliche politische Posten und Mandate in Deutschland, seinen Sitz im Bundestag eingeschlossen, abgegeben hatte.
Aber das ändert nichts daran, dass ihm diese Funktionen durch den russischen Präsidenten angetragen worden sind, und Schröder sie immer auch als Bundeskanzler a.D. an- und wahrgenommen hat.
Folglich hätte es Gerhard Schröder nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine nicht bei einer allgemeinen Verurteilung des Krieges belassen dürfen, sondern diese Funktionen niedergelegen und sich von Putin distanzieren müssen: sofort, öffentlich und unmissverständlich. Warum er das nicht getan hat, warum die Loyalität zu Putin für Schröder nicht hinterfragbar ist, kann nur er beantworten. Sofern er die Frage zulässt.
Und so steht er heute vor den Scherben seines Lebenswerks. Zurück kann er nicht. Sich jetzt von Putin abzusetzen, wäre wenig glaubwürdig und widerspräche wohl auch seinem Selbstverständnis.
Gerhard Schröder hat einen schweren Fehler gemacht. Er hat etwas unterlassen, was er hätte tun müssen. Aber eine mittelbare oder gar direkte Verantwortung für diesen Krieg trägt er nicht. Das sollten wir nicht vergessen.