Gregor Schöllgen – Historiker

Nichts mehr zu verlieren

25.02.2022 
Was hat er vor? Welche Ziele sind es wert, einen Nachbarn zu überfallen und einen Krieg zu führen, in dem man zwar siegen, den man aber nicht gewinnen kann? Warum wirft Russlands Präsident mit dem Angriff auf die Ukraine ein Prinzip über Bord, das für die Sowjetunion – seinen historischen Bezugspunkt – oberste Priorität hatte: die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in Europa?

Bislang war ich überzeugt und habe das auch geschrieben: „Putin ist kein Hasardeur. Er provoziert, und das kontrolliert, aber den Verstand verloren hat er nicht.“ Dass der Präsident den Verstand verloren hat, glaube ich nach wie vor nicht. Man sollte es auch nicht unterstellen. Denn damit würde man die eigenen Handlungs- und Gesprächsmöglichkeiten erheblich einschränken.

Wohl aber hat Putin offensichtlich die Kontrolle verloren. Gut möglich, dass der russische Präsident, wie schon andere Autokraten in seiner Situation, die Wirklichkeit nur noch selektiv, also durch seine Entourage gefiltert wahrnimmt. Die letzten öffentlichen Auftritte deuten darauf hin.

Jedenfalls hat Putin schon vor Beginn des Angriffs etwas zustande gebracht, was er immer verhindern wollte: einen Schulterschluss des Westens. Namentlich die von Frankreichs Präsident als „hirntot“ diagnostizierte NATO entfaltet seit Jahresbeginn eine ungeahnte politische und militärische Betriebsamkeit. Die Verstärkung ihrer Ostflanke, mit der das Bündnis zurecht auf den russischen Aufmarsch reagiert, geht weit über das hinaus, was man bislang erlebt hat.

Eskalationsspiralen wie diese werfen die Frage auf, wo die Anfänge liegen und wo die Ursachen zu suchen sind. Die Antworten liegen auf der Hand. Schon in den neunziger Jahren, als Wladimir Putin in der russischen Politik noch keine Rolle spielte und die meisten nicht einmal seinen Namen kannten, gab es ernstzunehmende Stimmen, die vor einer sogenannten Osterweiterung namentlich der NATO warnten.

Zu ihnen gehörte der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Botschafter der USA in Moskau entschieden und mit Erfolg auf eine harte Linie gegenüber den Sowjets gedrängt hatte und über Jahrzehnte eine Stimme mit Gewicht war.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion forderte Kennan ein ebenso radikales Umdenken: „Die Ausweitung der NATO wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg. Solch eine Entscheidung … wird … die russische Außenpolitik in eine Richtung treiben, die uns ganz und gar nicht gefallen dürfte.“

Genau so ist es gekommen. Und es blieb nicht dabei. Mit der Unterzeichnung der NATO-Ukraine-Charta am 7. Juli 1997 bezog die NATO auch dieses Land Schritt für Schritt in ihre Strukturen und Operationen ein. Die Ukraine machte damit von einem guten Recht Gebrauch; der Westen machte aus damaliger Sicht einen gravierenden Fehler.

Und dann trafen die USA auch noch im Bereich der strategischen Nuklearwaffen eine folgenreiche Entscheidung: Am 13. Dezember 2001 kündigte Präsident George W. Bush einseitig den amerikanisch-sowjetischen sogenannten ABM-Vertrag. Er war 1972 geschlossen worden und stellte sicher, dass keine der beiden Seiten auf die Idee kam, als erste den Knopf zu drücken.

Welche zentrale gleichgewichtswahrende Bedeutung dieser Vertag in Zeiten allgemeiner Hochrüstung hatte, wurde mir deutlich, als ich mein Buch Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbaschow schrieb, das 1996 erschien und die erste historische Gesamtdarstellung des Kalten Krieges war.

Wer heute, 20 Jahre nach der Kündigung des ABM-Vertrages, die Frage stellt, wann und wo die Sicherheitsfrage für Russland zu einem brisanten Thema wurde, sollte sich diesen und die ihm folgenden Schritte amerikanischer Nuklearpolitik ansehen. Dass Putin wenige Tage vor dem Überfall auf die Ukraine in einem bizarren Szenario die Einsatzfähigkeit des russischen Nuklearpotentials demonstrierte, war kein Zufall.

Die Osterweiterung der NATO warf für Russland die Sicherheitsfrage auf, die Kündigung des ABM-Vertrages verschärfte sie. Und das alles gerade einmal zehn Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion.

So wie Russland kein Recht hatte oder hat, die politische und wirtschaftliche, territoriale und militärische Unabhängigkeit und Souveränität eines anderen Staates wie der Ukraine in Frage zu stellen oder ihnen gar gewaltsam ein Ende zu setzen, so fatal war die Entscheidung des Westens, Russland in eine Defensivposition zu manövrieren. Das war so nicht geplant oder gewollt. Und an eine direkte Intervention in Russland war und ist schon gar nicht gedacht.

Aber der Westen nahm die offensive Wirkung in Kauf. Aus russischer Sicht fand die Offensive statt. Und auf die Wirklichkeit reagieren wir nun einmal so, wie wir sie wahrnehmen. Wie es zu dieser fatalen Lage kommen konnte, habe ich in meinem Buch Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte dargestellt und analysiert.

Warum Putin die Machtfrage gerade jetzt stellt, ist schwer zu sagen. Einen plausiblen Grund gibt es nicht, es sei denn, die allgemeine Lage wird in Moskau als so brisant eingeschätzt, dass jeder spätere Zeitpunkt ein falscher wäre. Genau davon sprach Putin in seiner Rede an die Russen unmittelbar vor Beginn des Angriffs auf die Ukraine, als er prognostizierte, dass der Vorsprung namentlich bei den neuen Nuklearwaffen rasch schwinden könne. So gesehen wäre der Überfall eine Flucht nach vorn.

Womit sich die Frage stellt, wer in Moskau für die Lageeinschätzung verantwortlich war und ist und welche Rolle das Militär spielt. Machen wir uns nichts vor: Dieser generalstabsmäßig vorbereitete Angriff ist kein Alleingang des russischen Präsidenten. Das Militär und ein nennenswerter Teil der russischen Bevölkerung stehen hinter ihm. Sie wollten und wussten, was kommen würde. Es war ein Angriff mit öffentlicher, auch nach innen gerichteter Ansage. Für den Moment kann sich Putin einer ausreichenden Rückendeckung sicher sein. Das könnte sich schneller ändern als gedacht. So oder so wäre es abwegig und gefährlich, sich allein auf den Präsidenten zu fixieren.

Man darf davon ausgehen, dass die Militärs wie auch Putin nicht vergessen haben, dass Amerikas Präsident Barack Obama Russland - Ende März 2014 und in Reaktion auf die Annexion der Krim - in einer provozierend polemischen Wendung als „Regionalmacht“ bezeichnete, deren offensive Strategie gerade nicht auf ihre Stärke, sondern auf ihre „Schwäche“ verweise.

Deshalb war die diplomatische Großoffensive des Westens während der letzten Wochen, zu der es keine Alternative gab, für Putin auch eine Demonstration russischer Stärke. Nicht der russische Präsident reiste zu Verhandlungen in die westlichen Metropolen, sondern die Staats- und Regierungschefs der USA und Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands wurden virtuell oder persönlich im Kreml vorstellig.

Im Kreml dachten und denken sie: Wer Schwäche zeigt, ist angreifbar. Und Russland ist schwach. In fast jeder Hinsicht, auch militärisch. Im direkten Vergleich sind namentlich die Vereinigten Staaten in nahezu allen Belangen überlegen, sieht man einmal von den nuklearen Arsenalen ab.

Bei der Volkswirtschaft sieht es nicht besser aus, im Gegenteil: Russland lebt von der Substanz. So gesehen bedeutet der Feldzug gegen sie Ukraine selbst dann ein in jeder Hinsicht unkalkulierbares Risiko, wenn er aus Moskauer Sicht erfolgreich und schnell beendet werden könnte. Zumal sich Putin und seine Entourage offensichtlich nicht die Frage gestellt haben, wie sie aus diesem Krieg wieder herauskommen sollen.

Will man die russische wie schon die sowjetische Außen- und Sicherheitspolitik verstehen, muss man dieses paranoid anmutende Sicherheitsbedürfnis in Rechnung stellen. Dass Putin es instrumentalisiert hat, um einen durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieg zu führen, ist zynisch.

Putin und seine Leute wussten und wissen, dass die Vereinigten Staaten und damit die NATO den Angriff auf die Ukraine nicht militärisch beantworten können und werden. Das hat der amerikanische Präsident Joe Biden sowohl vor als auch unmittelbar nach dem Angriff öffentlich und unmissverständlich klargestellt. Und noch so harte Sanktionen und andere nichtmilitärische Maßnahmen interessiert die Machtzentrale in Moskau wenig.

Für den Westen bedeutet das: NATO und EU haben unter den obwaltenden Umständen nichts in der Hand, um Russland aufzuhalten oder zum Rückzug zu zwingen. Dass überdies der Rest einer an vielen Enden und Ecken brennenden Welt aus dem Blick gerät, dürfte einer der schwersten Kollateralschäden dieses Krieges sein. Das sollte man im Auge behalten, wenn es auch in diesen Tagen und Wochen nicht vordringlich ist.

Hier und jetzt geht es um eine Antwort auf die Frage, wie man den Ukrainern schnell, entschlossen und wirkungsvoll helfen kann, ohne Putin und seinen Leuten einen Anlass für eine weitere Eskalation der Lage zu liefern.

Denn der Mann steht mit dem Rücken zur Wand. Wladimir Putin und seine Leute haben nichts mehr zur verlieren. Wer die Ansprache des Präsidenten an die „geschätzten Bürger“ und „lieben Freunde“ vor Angriffsbeginn verfolgt hat, konnte das hören. Und er konnte es sehen. Die Warnung, dass eine Bedrohung Russlands „für euch Folgen“ haben wird, „wie ihr sie in eurer Geschichte noch nie erlebt habt“, ist wörtlich zu nehmen. Für Putin ist der Einsatz von Nuklearwaffen eine Option.

Bei alledem dürfen wir nicht vergessen, dass Russland unser Nachbar bleibt. Europa braucht Russland. Und Russland braucht Europa. Nach Ende dieses Krieges womöglich mehr denn je. Verschließen wir dem Land und seinen Menschen jetzt die Tür, ist das eine Hypothek auf die Zukunft. Die sollten wir nicht aufnehmen. Denn es gibt ein anderes Russland.


Aktualisiert am 26. Februar 2022, 09:32 Uhr.