Gregor Schöllgen – Historiker

Nawalny contra Putin

03.02.2021 
Alexei Nawalny ist ein verwegener Mann. Wer einen Mordanschlag mit einem Nervenkampfstoff überlebt und dann in das Land der Strippenzieher und Täter zurückkehrt, ist entweder nicht bei Sinnen oder weiß genau, was er tut.

Nawalny weiß, was er tut. Er bekämpft den russischen Machtapparat mit dessen eigenen Waffen. In den Themen, die er wählt, und den Wegen, auf denen er sie unter die Leute bringt, ähnelt der Herausforderer verblüffend dem jungen Präsidenten Wladimir Putin, seinem erklärten Gegner.

Als der Anfang 2000 den Kreml bezog, war er für russische Verhältnisse ein moderner Machtpolitiker, der die seinerzeit effektivsten und populärsten Mittel der Kommunikation, nicht zuletzt die direkte Ansprache, beherrschte und sehr früh auch die digitalen Möglichkeiten der Einflussnahme erkannte.

Nawalny kann ihm heute nicht nur das Wasser reichen, sondern ist ihm in dieser Hinsicht auch deshalb überlegen, weil er und seine Leute mit der digitalen Provokation eine hocheffektive Waffe einsetzten, die sich kaum neutralisieren und so gut wie gar nicht ausschalten lässt.

Und dann besetzt Nawalny jene beiden Themen, mit denen auch Putin vor mehr als zwei Jahrzehnten angetreten war und die ihm eine hohe Popularität bescherten: Nachdem Russland während der zehnjährige Amtszeit seines Vorgängers Jelzin zu einem Eldorado der Glücksritter und Raubkapitalisten verkommen war, sagte Putin zum einen der Korruption den Kampf an. Mit großem Erfolg, wie der anfängliche Zuspruch im In- und Ausland zeigte.

Dass Nawalny seinen Gegner heute mit diesem Thema angreifen und offenkundig empfindlich treffen kann, zeigt auch, dass und wie eine jahrzehntelange autokratische Herrschaft für Korruption und Machtmissbrauch anfällig wird. Dass diese Macht im Falle Russland durch Wahlen legitimiert ist, ändert daran nichts.

Zum anderen gibt sich auch Nawalny als russischer Nationalist. Er tut das zurückhaltender als Putin, auch kritisiert er dessen Mittel und Methoden bei der Annexion der Krim und anderen außenpolitischen Manövern. Aber die Ergebnisse stellt auch er nicht infrage.

Man muss das in Rechnung stellen, um zu verstehen, warum der russische Machtapparat erstmals seit Beginn des Jahrtausends ernsthaft unter Druck geraten ist. Denn das ist er. Wer Regimegegner unter fadenscheinigem Vorwand ins Gefängnis stecken, friedliche Demonstranten zusammenknüppeln und verhaften lässt, handelt nicht aus einer Position der Stärke heraus.

Die russische Führung steht augenblicklich mit dem Rücken zur Wand. Das ist gefährlich. Denn Regime, die sich in die Ecke gedrängt fühlen, reagieren nicht selten irrational oder auch durch eine Flucht nach vorn. Das kann zu erheblichen Verwerfungen führen – im Innern, aber auch in den auswärtigen Beziehungen. Eine Destabilisierung der Nuklearmacht und des Vielvölkerstaates Russland hätte katastrophale Auswirkungen, nicht nur für Europa.

Daher sollte man sich im Westen genau überlegen, ob man in dieser Situation das Gespräch mit der russischen Führung abrechen oder sie zusätzlich unter Druck setzten will. Das wäre der falsche Weg. Denn nur wenn wir mit Moskau im Gespräch bleiben, haben wir überhaupt eine Chance, unserem Verständnis von Demokratie und Menschenrechten Gehör zu verschaffen.