New York ist paralysiert. Eigentlich ist das ein Widerspruch in sich selbst, denn die Stadt steht für Bewegung, Dynamik und Tempo, wenn man so will für das kontrollierte Chaos. Ein Virus bringt sie zum Stillstand. Das hat in dieser Radikalität nicht einmal der 11. September 2001 geschafft. Eben weil das Leben in New York komplett zum Erliegen kommt, ist die Stadt wie der Virus, der sie lahmlegt, außer Kontrolle.
Mich berühren diese Bilder sehr, denn in New York – Manhattan, Upper East Side – hatte ich vom Herbst 1986 bis zum Frühjahrjahr 1993 einen zweiten Wohnsitz. Ich habe dort in der Regel die Semesterferien, auch einmal ein Semester verbracht und dabei Fritz Stern an der Columbia University vertreten.
In dieser Zeit habe ich fast alle meine deutschen Vorlesungen geschrieben beziehungsweise umgeschrieben und mich unter anderem mit einer Serie von Zeitungsartikeln sowie zwei Büchern in der Diskussion über Deutschlands neue Rolle in der Welt (
"Die Macht in der Mitte Europas" und
"Angst vor der Macht") zu Wort gemeldet.
Diese Wortmeldungen lebten stark von der transatlantischen Perspektive – oder genauer Gesagt: vom Blickwinkel New York, denn die Stadt ist in vielem gerade kein Spiegelbild das Landes. Diese in New York gesammelten Erfahrungen haben meine Bücher und Artikel, aber auch meine Vorlesungen an der Erlanger Universität und nicht zuletzt meine Lehrtätigkeit im Rahmen der Attachéausbildung des Auswärtigen Amtes stark beeinflusst.
Kurz bevor ich New York verließ, erschien ein Buch George F. Kennans, der nach einer glänzenden Karriere als Diplomat und Historiker im benachbarten Princeton lehrte. Das Buch mit dem Titel
„Around the Cragged Hill. A Personal and Political Philosophy“ hat mich schwer beeindruckt. Ich habe damals eine lange Besprechung für die FAZ geschrieben: „Ein Jahrhundert im Rückblick. Das pessimistische Vermächtnis des Georg F. Kennan“, Frankfurter allgemeine Zeitung, 25. Januar 1993.
Jetzt fiel mir dieses Buch ein, und als ich es zur Hand nahm, war ich beeindruckt, wie weitsichtig der Mann gewesen ist. Die Pandemie hat er nicht vorhergesehen, aber er ahnte, dass Leute wie Donald Trump den deformierten westlichen Gesellschaften in Zeiten schwerer Krise den Rest geben können. Vor beinahe drei Jahrzehnten prognostizierte George F. Kennan ziemlich genau, was auf uns zukommt, wenn die Welt unter solchen Umständen außer Kontrolle gerät.