So etwas habe ich selten gelesen. Jedenfalls nicht von einem aktiven Politiker, und schon gar nicht von einem Staats- oder Regierungschef, der weiß, was er tut. Und das kann man in diesen Tagen nicht von allen Regierungschefs und Präsidenten sagen.
Das Interview, das der französische Staatspräsident Emmanuel Macron am 21. Oktober der Zeitung
„The Economist“ gab und das diese am 7. November 2919 auf Englisch veröffentlichte, hat lediglich ein Handicap: Seine Länge.
Mit fast 25 Seiten hat es das Format einer schmalen Monographie. Man darf davon ausgehen, dass die allermeisten, die sich jetzt dazu äußern, den Text nicht gelesen haben. Jedenfalls nicht in Gänze. Anders ist es schwerlich zu verstehen, warum sich praktisch alle nur mit der einen, unbedingt diskussionswürdigen Aussage Macrons beschäftigen, die NATO sei „hirntod“.
Mal abgesehen davon, dass sich die Widerrede in der Regel auf ein „Nein, das ist sie nicht“ beschränkt, wird die verkürzte Wahrnehmung dem Stück und seinem Autor nicht gerecht. Der Mann ist quicklebendig. Tatsächlich liefert Macron eine umfassende Analyse des Zustandes der Welt – 30 Jahre nach dem Zusammenbruch der alten Weltordnung.
Das gilt für die globalen politischen, wirtschaftlichen oder auch digitalen Zusammenhänge, es gilt für die Entwicklungen in China, Russland oder auch Afrika, und es gilt natürlich für den Zustand der europäischen und atlantischen Gemeinschaften.
Wer verstehen will, die Welt heute aussieht, sollte dieses Interview unbedingt lesen. Ich für meinen Teil bin überrascht, wie sehr sich die Analysen eines exponierten Staatsmannes und eines distanzierten Beobachters (vgl.
Gregor Schöllgen – Nato und Europäische Union sind nicht mehr nötig) decken können.